Liebe Väter, stellt euch mal vor, dass euer Kind eines Tages von der Schule nach Hause kommt und euch erzählt, dass es sich ausgeschlossen fühlt. Nicht wegen seiner Persönlichkeit oder seiner Interessen, sondern wegen einer Beeinträchtigung, die es von Geburt an hat. Wie würde sich das für euch anfühlen? Und was würdet ihr tun?
Diese Szenarien sind leider keine Seltenheit, wie eine aktuelle Studie zeigt. Das „Inklusionsbarometer Jugend“ der Aktion Mensch, die erste bundesweite Vergleichsstudie zu Teilhabechancen junger Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, zeichnet ein besorgniserregendes Bild unserer Gesellschaft. Als Väter tragen wir eine besondere Verantwortung, uns mit diesen Erkenntnissen auseinanderzusetzen und aktiv zu werden.
Die harte Realität: Diskriminierung im Alltag
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als sechs von zehn jungen Menschen haben bereits Diskriminierungserfahrungen gemacht. Doch es wird noch alarmierender: Bei Jugendlichen mit Beeinträchtigung liegt dieser Anteil bei erschreckenden 85 Prozent. Zum Vergleich: Bei Jugendlichen ohne Beeinträchtigung sind es 61 Prozent – eine Zahl, die für sich genommen schon beunruhigend hoch ist. Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch, bringt es auf den Punkt:
„Die Zahlen verdeutlichen: Es ist noch ein weiter Weg, bis Vielfalt mehrheitlich als normal oder gar als Vorteil für unsere Gesellschaft wahrgenommen wird.“
„Deshalb ist Inklusion von Anfang an in allen Lebensbereichen so wichtig. Wenn gleichberechtigtes Miteinander von Geburt an gelernt und gelebt wird, profitieren alle davon und die Diskriminierungsspirale beginnt erst gar nicht.„
Als Väter müssen wir uns fragen: Wie können wir dazu beitragen, dass unsere Kinder – egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung – in einer Welt aufwachsen, in der Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern als Bereicherung gesehen wird?
Die Sorge vor der Zukunft
Ein besonders beunruhigender Aspekt der Studie ist die Zukunftsangst, die viele junge Menschen mit Beeinträchtigung plagt. Ein Drittel von ihnen befürchtet, in Zukunft noch stärker diskriminiert oder ausgegrenzt zu werden. Bei jungen Menschen ohne Beeinträchtigung teilt nur halb so viele diese Sorge.
Diese Zahlen sollten uns als Väter wachrütteln. Denn sie zeigen, dass wir es mit einem systemischen Problem zu tun haben, das sich nicht von selbst lösen wird. Im Gegenteil: Ohne aktives Eingreifen und Umdenken in der Gesellschaft droht sich die Situation für junge Menschen mit Beeinträchtigung weiter zu verschlechtern.
Teilhabe in allen Lebensbereichen: Eine Herausforderung
Die Studie untersucht fünf zentrale Dimensionen der Teilhabe: soziale Beziehungen, Alltagsleben, Selbstbestimmung, individuelle Entfaltung und Nichtdiskriminierung. In allen diesen Bereichen sehen sich junge Menschen mit Beeinträchtigung mit größeren Hürden konfrontiert als ihre Altersgenossen ohne Beeinträchtigung.
Besonders auffällig ist dies im Bereich der Freizeitgestaltung. Obwohl junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigung ähnliche Vorlieben haben, fehlen Ersteren oft die Möglichkeiten, diese gleichberechtigt auszuleben. Ein Hauptgrund dafür ist der eklatante Mangel an Barrierefreiheit – ein Problem, das sich durch alle Lebensbereiche zieht, vom Schulalltag bis hin zur Berufswelt.
Als Väter sollten wir uns fragen: Wie können wir dazu beitragen, dass unsere Gemeinden, Schulen und Arbeitgeber inklusiver werden? Wie können wir unseren Kindern vorleben, dass Inklusion eine Selbstverständlichkeit sein sollte?
Die Familie als Auffangnetz
Ein interessanter Aspekt der Studie ist die Rolle der Familie als Unterstützungssystem. Für 72 Prozent der jungen Menschen mit Beeinträchtigung ist die Familie die wichtigste Stütze. Bei jungen Menschen ohne Beeinträchtigung stehen dagegen Freundschaften mit 86 Prozent an erster Stelle.
Christina Marx erklärt diesen Unterschied: „Junge Menschen mit Beeinträchtigung sind ganz besonders auf ein privates Netzwerk und Verbündete angewiesen, die sie unterstützen und für sie kämpfen. Denn wo der Einflussbereich der Familie aufhört, versagen die gesellschaftlichen Strukturen. Zu individuellen Diskriminierungserfahrungen kommt dann eine strukturelle Diskriminierung hinzu.“
Als Väter tragen wir hier eine besondere Verantwortung. Wir müssen nicht nur ein sicherer Hafen für unsere Kinder sein, sondern auch aktiv daran arbeiten, die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern. Denn nur so können wir sicherstellen, dass unsere Kinder auch außerhalb des familiären Umfelds die Unterstützung und Akzeptanz erfahren, die sie verdienen.
Freundschaften und Selbstwertgefühl: Ein Teufelskreis
Ein besonders besorgniserregender Aspekt der Studie betrifft den Bereich der sozialen Beziehungen. Jungen Menschen mit Beeinträchtigung fällt es mit 27 Prozent deutlich schwerer, neue Freundschaften zu schließen, als jungen Menschen ohne Beeinträchtigung (9 Prozent). Dies hat weitreichende Folgen für ihre persönliche Entwicklung und ihr Selbstwertgefühl.
Christina Marx erklärt:
„Freundschaften sind ein essenzieller Teil junger Lebenswelten, die die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich beeinflussen. Überall dabei sein zu können, ist wichtig, um Kontakte zu knüpfen. Da viele junge Menschen mit Beeinträchtigung nicht gleichberechtigt teilhaben können, ist der Unterschied in dem Bereich die bittere Konsequenz.“
Die Folgen sind gravierend: 26 Prozent der jungen Menschen mit Beeinträchtigung fühlen sich einsam – doppelt so viele wie bei jungen Menschen ohne Beeinträchtigung (13 Prozent). Mehr als die Hälfte beklagt, dass ihnen zu wenig zugetraut wird, verglichen mit nur 29 Prozent der Jugendlichen ohne Beeinträchtigung.
Diese Erfahrungen wirken sich negativ auf das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit aus. Die Hälfte der jungen Befragten mit Beeinträchtigung glaubt, andere in ihrem Alter könnten viel mehr als sie selbst. Bei jungen Menschen ohne Beeinträchtigung teilt nur knapp ein Fünftel diese Einschätzung.
Als Väter müssen wir uns fragen: Wie können wir unseren Kindern – mit und ohne Beeinträchtigung – beibringen, offen auf andere zuzugehen? Wie können wir Vorurteile abbauen und ein Umfeld schaffen, in dem sich alle willkommen und wertgeschätzt fühlen?
Die Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit
Die kumulativen Effekte all dieser Erfahrungen spiegeln sich in der allgemeinen Lebenszufriedenheit wider. Nur gut die Hälfte der befragten jungen Menschen mit Beeinträchtigung ist mit ihrem Leben insgesamt zufrieden. Bei jungen Menschen ohne Beeinträchtigung sind es mehr als drei Viertel.
Zudem plagen junge Menschen mit Beeinträchtigung deutlich mehr Zukunftssorgen. Diese Diskrepanz ist alarmierend und zeigt, wie dringend Handlungsbedarf besteht.
Was können wir als Väter tun?
- Vorbildfunktion wahrnehmen: Unsere Kinder lernen durch Beobachtung. Wenn wir Inklusion vorleben, offen auf Menschen mit Beeinträchtigungen zugehen und Vielfalt als Bereicherung sehen, werden unsere Kinder dies als normal empfinden.
- Offene Gespräche führen: Sprecht mit euren Kindern über Beeinträchtigungen, Inklusion und Vielfalt. Ermutigt sie, Fragen zu stellen und fördert ihre Empathie.
- Inklusive Aktivitäten fördern: Sucht nach Freizeitaktivitäten und Veranstaltungen, die inklusiv gestaltet sind. So lernen eure Kinder ganz natürlich, dass Unterschiedlichkeit normal und wertvoll ist.
- In der Schule aktiv werden: Setzt euch in der Schule eurer Kinder für mehr Inklusion ein. Sprecht mit Lehrer*innen und der Schulleitung über Möglichkeiten, das Schulumfeld inklusiver zu gestalten.
- Politisch engagieren: Macht euch für mehr Barrierefreiheit und inklusive Strukturen in eurer Gemeinde stark. Jede Stimme zählt, wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu beeinflussen.
- Selbstreflexion üben: Hinterfragt eure eigenen Vorurteile und Annahmen. Oft sind wir uns unserer eigenen Voreingenommenheit nicht bewusst.
- Unterstützung anbieten: Wenn ihr Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen kennt, fragt sie, wie ihr unterstützen könnt. Manchmal macht schon eine kleine Geste einen großen Unterschied.
Ein Aufruf zum Handeln
Christina Marx von der Aktion Mensch fasst die Dringlichkeit der Situation zusammen:
„Junge Menschen sind in unserer Gesellschaft mit ihren Anliegen unterrepräsentiert und haben keine ausreichende Lobby. Dabei sind sie unsere Zukunft. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – also von jeder Person – junge Menschen zu unterstützen und eine gleichberechtigte Teilhabe der Generation Z sicherzustellen.“
Als Väter haben wir eine besondere Verantwortung, diesen Aufruf ernst zu nehmen. Wir sind nicht nur Vorbilder für unsere eigenen Kinder, sondern können auch in unserem weiteren Umfeld positive Veränderungen anstoßen.
Die Ergebnisse der Studie des Inklusionsbarometers Jugend der Aktion Mensch sind ein Weckruf. Sie zeigen uns, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, bis Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe für alle jungen Menschen Realität sind. Aber sie zeigen uns auch, dass jeder Einzelne von uns etwas bewirken kann.
Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder junge Mensch – mit oder ohne Beeinträchtigung – die gleichen Chancen hat, sich zu entfalten, Freundschaften zu schließen und ein erfülltes Leben zu führen. Denn eine inklusive Gesellschaft ist eine reichere, vielfältigere und letztlich glücklichere Gesellschaft für uns alle. Beginnen wir heute damit, die Welt für die Generation Z und alle kommenden Generationen ein Stück inklusiver zu machen. Jeder Schritt zählt.
Über das Inklusionsbarometer Jugend
Im Rahmen der ersten bundesweiten Vergleichsstudie befragte die Aktion Mensch 1442 junge Menschen im Alter von 14 bis 27 Jahren, davon 718 mit Beeinträchtigung und 724 ohne Beeinträchtigung. Die persönlichen Befragungen wurden in Zusammenarbeit mit Ipsos Public Affairs zwischen November 2023 und Februar 2024 durchgeführt. Aus den Umfrageergebnissen wurde ein Teilhabeindex errechnet. Ziel der partizipativ angelegten Studie ist es, ungleiche Teilhabechancen von jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zu identifizieren, um auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse Inklusion weiter voranzutreiben.