„Ich will durch die USA reisen, vor allem will ich nach Los Angeles, San Francisco, Chicago und New York“, sagt meine 14-jährige Tochter Lotta eines Tages zu uns verblüfften Eltern.
„Ohne mich“, sagt meine Frau, was mich nicht wundert.
Sie war oft auf Dienstreise in den USA und hat kein Interesse, dort einen ganzen Sommer zu verbringen.
„Und du Papa?“
Für meine Tochter scheint die Aussicht, sich auf ein solches Abenteuer allein mit ihrem Papa einzulassen, nicht bedrohlich zu sein. Und das ist kein Wunder. Schließlich hatte ich kurz nach Einführung der Elternzeit nicht nur die „Vätermonate“ genommen, sondern war 15 Monate zu Hause geblieben. Ich war es auch, mit dem sie später zum Arzt ging und der sie von der Schule abholte. Und schon als Zehnjährige wanderte sie mit mir und großem Bruder durch die Bretagne und ein Jahr später durch die Normandie.
„Ich bin dabei“, sage ich.
Ich freue mich riesig. Zugleich frage ich mich: Wird das gutgehen? Wir werden Nächte in Zügen verbringen müssen. (Ich fahre nicht gern Auto, vor allem nicht in einem Land, das ich nicht kenne.) Wir werden ständig woanders übernachten. Vor allem werden wir SECHS Wochen lang jeden einzelnen Tag miteinander verbringen, von morgens bis abends und umgekehrt…
Die Zeit vergeht rasend schnell. Ende Juni stehen wir – meine jetzt 15-jährige Tochter und ich – plötzlich vor dem Flughafen in L.A. und warten auf den Shuttle zum Busbahnhof. Ein Mann redet mit dröhnender Stimme auf uns ein. Er ist so laut und will so penetrant helfen, dass Lotta Angst bekommt. Schließlich sitzen wir im Shuttle und dann im Bus, der uns nach Venice Beach bringt, dort ist unser Hostel. Der Verkehr an der Kreuzung in der Nähe unseres Hostels: die Hölle!
Wir schleppen uns, nachdem wir uns im einzigen Doppelzimmer eingecheckt haben (in die Schlafsäle dürfen keine Minderjährigen), den berühmten Venice Boulevard entlang. Lotta gefällt es hier gar nicht. Und mir auch nicht. Aus jedem Geschäft laute Musik. Auf dem Boulevard skurrile Gestalten, die derart nach Marihuana riechen, dass uns schwindlig wird. Am Rand des Boulevards: Selbstgespräche führende Verwahrloste, die mit dem Kopf wippen. Oder wie tot einfach auf dem Boden liegen. Krass. Einfach nur krass.
„Also so habe ich es mir hier nicht vorgestellt“, murmelt Lotta.
Ich auch nicht. Und ich denke: Das ist unser erster Tag hier! Wie halten wir es bloß aus, wenn diese sechs Wochen eine Aneinanderreihung unerfüllter Erwartungen werden? Wenn die Traumreise zu einem Alptraum wird?
Dann wird es aber besser. So, wie wir es uns erhofft haben. Der Strand selbst ist zum Beispiel endlos lang und breit. Der Radweg direkt am Meer ist der Knaller. Die Busfahrten nach Hollywood (man braucht fast zwei Stunden, derart riesig ist Los Angeles) entwickeln sich wie alle Busfahrten in den USA zu kleinen Alltagsabenteuern, in denen man viel über das „einfache“ Volk lernt, das sich vor allem in L.A. immer herzlich beim Busfahrer bedankt. Die Zugfahrten: überwältigende Aussichten! San Francisco wie Chicago und New York: Wahnsinnsstädte! Washington: faszinierend, wenn auch, O-Ton meiner Tochter, eine “Erwachsenenstadt“. (Wegen der gefühlt tausend Museen.) Denver: eine Entdeckung, und von überall sieht man die Rockys.
Natürlich gibt es nach dem Venice Boulevard weitere Enttäuschungen. China Town in San Francisco und New York. Na ja. Der Walk of Fame in Hollywood mit seinen Sternen ist überschätzt. Das Viertel in Brooklyn, in dem unser Airbnb liegt, ist laut und dreckig. Vor allem: Unsere Long-Distance-Züge haben derart groteske Verspätungen, dass man die Deutsche Bahn plötzlich mit ganz anderen Augen sieht. Anstatt am frühen Abend kommen wir mit siebenstündiger Verspätung um zwei Uhr nachts in Denver an. Und dann stehen wir vor dem Bahnhof, um uns herum Obdachlose.
Da hat man als Papa Angst um die Tochter. Nicht so sehr davor, dass ihr etwas passiert. Aber davor, dass sie die Lust verliert. Und wenn ausgerechnet in dieser Situation das Uber-Taxi ewig auf sich warten lässt… ja, da hat man sogar ein schlechtes Gewissen. Dieses Zug-Ding war schließlich meine Entscheidung gewesen.
Schlimmer geht natürlich immer: Unser nächster Zug erreicht Chicago mit einer Verspätung von 16 (!) Stunden. Deshalb müssen wir eine Nacht länger in Denver bleiben, wo der Zug bereits 12 Stunden verspätet ist, und verbringen eine Nacht weniger in Chicago. Damit muss man umgehen können.
Und das können wir! Denn mit uns beiden klappt es einfach. Für mich ist das der sechswöchige durchgehende Höhepunkt. Wir streiten uns nie. Und mit „nie“ meine ich: kein einziges Mal! Dabei haben wir beide unsere Macken. Lotta hat oft hohe Erwartungshaltungen und kann mit Enttäuschungen nicht gut umgehen. Das weiß sie, und anscheinend hat sie vor der Reise autogenes Training gemacht. Sie verdirbt uns nie auch nur einen halben Nachmittag durch enttäuschungsbedingte schlechte Laune. Ich selbst drehe jedes Mal durch, wenn irgendein technisches Gerät nicht funktioniert oder ich mal wieder irgendwo ein Passwort eingeben muss. Und ich habe vor der Reise kein autogenes Training gemacht. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft sie letztendlich gesagt hat:
„Papa… nun bleib einfach mal ganz ruhig… schau mal hier!“
Sie weiß immer, wo ich am Fahrkartenautomaten drücken muss oder wie man das richtige Menü findet.
Meine Durchdreher sind das eine, mein Orientierungssinn ist das andere: Ich nutze praktisch jede Chance mich zu verlaufen. Eigentlich müsste ich immer den Weg gehen, den ich für den falschen halte, dann würde es vielleicht klappen. Ich weiß das. Und meine Tochter auch: Sie erinnert sich noch immer daran, wie wir vor drei Jahren in Dublin ein Taxi anhalten mussten, weil wir es sonst nicht zur Fähre geschafft hätten, derart hatte ich mich verirrt.
Also überlasse ich es ihr, uns von A nach B zu bringen. Und das tut sie. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit führt sie uns mithilfe von GoogleMaps durch die amerikanischen Großstädte, und ich bin dabei wirklich nie eine Hilfe. Zu den Sätzen, die ich so oder so ähnlich oft hören muss, gehören:
„Papa … nicht da entlang!“
„Papa? Da sind wir doch schon gestern entlanggegangen. Weißt du das denn nicht mehr?“
„Papa, in die Richtung geht es nach Manhattan. Wir wollen aber nach Brooklyn.“
Es gibt Momente, in denen ich mir vorkomme wie eine wandelnde Kreditkarte, denn nur zum Bezahlen braucht Lotta mich. Den Rest könnte sie allein. Aber dann kommt dieser Satz, bei dem ich fast heulen muss:
„In deiner Nähe fühle ich mich einfach sicher.“
Seufz.
Und:
„Natürlich können wir auch mal in ein Museum gehen.“
Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Wenn man sechs Wochen mit dem eigenen Kind unterwegs ist, sollte man wissen, dass am Ende fast immer das Kind entscheidet. Und das ist auch richtig so. Beispiel: Natürlich gehen wir trotz des absurden Preises (100 $ pro Person) ins Disneyland, obwohl ich nicht so der Freizeitparktyp bin. Vor Ort bringt dann alles aber irgendwie Spaß, selbst die Warterei in den Schlangen. Warum? Weil mein Kind glücklich ist. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht erklären, dass ich diesen Tag von Beginn an genieße – wir verbringen am Ende 14 Stunden im Disneyland.
Aber natürlich sind wir uns meistens eh einig: mit dem Rad über die Golden Gate Bridge, Spaziergänge durch die riesigen Parks oder am Meer entlang oder einfach durch die Innenstädte mit der spektakulären Skyscraper-Architektur, Universal Studios, Alcatraz, eine Fahrt mit dem Cable Car, Statue of Liberty usw. – das alles und noch viel mehr wollen wir beide.
In Museen sind wir am Ende oft, und vor allem für die Naturkundemuseen begeistert sich auch Lotta. Bei den Kunstmuseen hört sie sich meine Vorträge darüber an, warum mich MAnet mehr interessiert als MOnet, und sagt anschließend:
„Danke, aber das geht ins eine Ohr rein, ins andere wieder raus.“
Wir sind zu diesem Zeitpunkt schon lange unterwegs. Wir lachen darüber.
Natürlich wäre ich manchmal gern länger in einem Museum und kürzer in einem Souvenir-Shop gewesen. Und sie sagt einige Male:
„Also mit Kathi hätte ich das jetzt anders gemacht.“
Ist okay. 35 Jahre Altersunterschied. Kann man nicht wegradieren. Wir wissen beide, dass es ohne Kompromisse nicht geht. Und manchmal gibt es keinen Kompromiss: Die Abende verbringen wir zum Beispiel ausschließlich im Hostel oder im Airbnb, denn abends möchte Lotta nicht raus. Anstatt in einem Pub zu sitzen, sitzen wir auf dem Bett, spielen das Kartenspiel Quix und schauen Stranger Things. Und Wunder geschehen: Schon nach kurzer Zeit werden diese Abende auch für mich zum ultraentspannten Ausklang eines jeden Tages. Ein Ritual, das ich gegen nichts auf der Welt eintauschen möchte.
Die Reise ist nun zu Ende. Ich sitze wieder am Schreibtisch und arbeite an meinen Büchern oder unterrichte, Lotta geht wieder zur Schule. Alltag. Zeit für ein Fazit.
Wäre ich mit meiner Frau oder mit einem Freund gereist, wäre die Reise anders gewesen. Aber nicht besser. Besser geht nicht. Auf die Gefahr hin, unendlich kitschig zu klingen: Dieses Gefühl, dass Lotta meinen Urenkeln noch von dieser Reise erzählen wird und dass ich für immer der Papa bleiben werde, der mit ihr mit dem Zug durch die USA gereist ist, ist ein wunderbares Gefühl.
Lieber Arne, vielen Dank für diesen spannenden Reisebericht. Er sollte unsere Papas motivieren, auch das Abenteuer mit den eigenen Kindern zu wagen. Und das in jedem Alter, auch gerade in der Pubertät. Wer mehr von Arne lesen möchte, dem können wir seine Romane Aulaskimo und Schilksee 1990 sowie das Buch Vatertag! nur sehr ans Herz legen. Außerdem betreibt er zusammen mit seiner Tochter einen youTube-Kanal. Da gibt es auch etwas zu den USA zu sehen: