Im Rahmen eines Blogger-Treffens bei Pampers in den Räumen von Procter&Gamble konnten wir ein wirklich spannendes Interview mit Prof. Dr. Malte Mienert führen, der dort bei der Entwicklung von Windeln insbesondere mit wissenschaftlichem Rat zum Thema „Freies Spiel“ und „Frühkindliche Entwicklung“ zur Seite steht. Er ist derzeit in drei Berufen unterwegs. Er ist von Haus aus Entwicklungs- und pägagogischer Psychologe, arbeitet somit als Leiter eines Studienganges für kindliche Bildung und arbeitet viel mit Leuten, die sich in der Forschung mit kindlicher Entwicklung beschäftigen.
Im zweiten Job ist er freiberuflicher Fortbilder, leitet also insbesondere Pädagoginnen und Pädagogen aber auch viele Eltern. Und dann ist er noch Autor und schreibt Bücher und Fachveröffentlichungen zu allen Themen der kindlichen Entwicklung.
Er beschreibt sich selbst nicht als der Profi-Papa, der weiß: „bei meinen zwei Kindern war das auch so“, sondern eher als der eingeladene Experte mit dem Hintergrund der Entwicklungspsychologie: Was ist für Kinder in welchem Alter typisch und was brauchen Kinder für Ihre Entwicklung. Wir konnten ihm ein paar spannende Antworten entlocken.
Unser Interview mit Dr. Malte Mienert
Kann man irgendwie zusammenfassen, was der Vater in der Entwicklung des Kindes für eine Rolle spielt?
Grundsätzlich müssen zwei Sachen unterschieden werden. Auf der einen Seite gibt es eine kulturelle Erwartung und Standards, was der Vater zu leisten hätte oder sollte. Das sind Erwartungen, die transportiert werden. Und auf der anderen Seite steht, was aus natürlicher Sicht erwartet wird oder was das Kind von seinem Vater möchte. Was das letztere betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen Mutter und Vater. Als Bindungs-, Beziehungs- und Vertrauensperson sowie Entwicklungsbegleiter sind die Väter aus natürlicher Sicht genauso gleichberechtigt wie die Mutter auch.
Aus kultureller Sicht dominiert immer noch, je kleiner die Kinder sind, umso mehr die Frauen die Domäne für sich abstecken. Also wenn die Kinder größer sind, gehen die Väter mal mit ihnen Fussball spielen oder es wird etwas mehr zugelassen. Aber gerade sehr sehr kleine Kinder werden gern in der Nähe der Mutter gehalten. Das ist nach wie vor das Typische.
Wenn ein berufstätiger Vater abends nur eine Stunde mit seinem Kind verbringen kann, gibt es dafür eine ideale Aufteilung?
Viele Väter haben Angst, dass sich die Bindung nicht so intensiv entwickelt, weil sie weniger Zeit mit Ihrem Kind verbringen. Die beruhige ich dann gern, denn Bindung als Phänomen ist relativ zeitunabhängig. Man kann also zum Beispiel zu einer Oma, die man nur einmal im Jahr sieht, eine intensive Bindung haben, die sofort reaktiviert wird. Während eine Person, die ständig da ist, trotzdem nicht zur Bindungsperson werden muss. Insofern würde ich gern den Vätern die Angst nehmen wollen, dass es ein Zeitproblem ist. Berufstätige Mütter haben das gleiche Problem, denn dann sind die Kinder oft bis zu zehn Stunden in der Tagesbetreuung und dann bleibt für alle nur noch zwei oder drei Stunden Wachzeit am Abend.
Ich würde mich nicht leiten lassen von Vorstellungen, was man alles zu machen habe. Denn das Kind ist meist nach einem langen Tag auch erschöpft. Also einfach die Zeit genießen, Ruhe und Entspannung auftauchen lassen und vielleicht ein oder zwei kleine gemeinsame Rituale finden. Zum Beispiel die Gute Nacht Geschichte, ein Gebet oder die Schlafvorbereitung. Da reicht diese Zeit völlig aus für eine intensive Beziehungsgestaltung.
Ich würde dann auch am Wochenende, wenn mehr Zeit ist, nicht in Aktionismus ausbrechen, sondern die Zeit einfach genießen als Erholung und die Führung auch ein bißchen dem Kind überlassen.
Wo ist die richtige Balance zwischen den Helikoptereltern und der übertriebenen Freiheit der Kinder?
Da prallen zwei unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. Eltern wollen, dass ihr Kind viel erreicht im Leben, deswegen haben sie von Anfang an sehr starke Vorstellungen davon, was alles passieren muss im zukünftigen Leben der Kinder. Eltern stehen stark unter Druck für den Erfolg der Entwicklung ihrer Kinder und das lässt sich ja auch nicht wegdiskutieren. Alle wünschen sich, dass das Kind später mal der Geschäftsführer wird und eine Firma leitet oder ein Jahreseinkommen von 100.000 EUR hat.
Bloß mit diesem Wunsch, dass die Kinder sich bestmöglich entwickeln, geht auch häufig der Irrglaube einher, dass man deshalb die Kinder viel trainieren muss. Damit erzeugen wir aber häufig das Gegenteil. Also Kinder, die keine Lust mehr auf Programm, auf Förderung, auf vorgegebene Ideen haben. Die sich auch schwer selbst beschäftigen können ist ein Problem, welches wir bei vielen Kindern beobachten.
Wir klagen immer über die Generation der Kinder, die den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen oder Computerspielen. Dabei haben wir sie so gemacht, weil wir jede Sekunde ihres Lebens gestaltet haben. Dieses Vertrauen zu entwickeln, dass das Kind tatsächlich für sich das entwickelt, das braucht, das holt, was bei ihm gerade Thema ist, das fällt vielen Erwachsenen schwer. Aber ich sage, lieber einen kleinen Schritt zurücktreten, ein bißchen länger abwarten und gucken, was von dem Kind selber kommt, das wird das sein, was das Kind am nachhaltigsten lernt. Dinge, die aus dem eigenen Interesse gespeist sind.
Gibt es denn auch eine Empfehlung für die Mediennutzung von Kindern in Bezug auf die Entwicklung?
Formeln oder Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht, weil eben das Interesse an den Medien von Kind zu Kind sehr unterschiedlich ist. Ein Kind, was sonst nichts mit sich anzufangen weiss, wird ein größeres Interesse am Fernseher haben als ein Kind, was seinen eigenen Interessen nachgeht, viele Hobbies hat, sich für alles Mögliche begeistern kann, dann ist natürlicherweise das Interesse am Fernsehen auch geringer. Wenn man also den Fernseher ausschalten möchte, liegt die Frage nahe, was denn das Alternativprogramm ist.
Zahlen dafür, dass Medien nachweislich statistisch gesehen die Kinder negativ beeinflussen, gibt es nicht. Medienkonsum hängt häufig von der sozialen Zugehörigkeit, vom Bildungsgrad der Eltern, von vielen anderen Faktoren ab. Da kann man am Ende nicht sagen, das Fernsehen war schuld. Wir müssen überlegen, wenn wir auf Fernsehen verzichten wollen, dass es ein anderes Programm gibt.
Die ersten drei Jahre des Kindes gelten als die Wichtigsten für die Entwicklung. Was kann man da alles falsch machen?
Da lauert häufig ein Missverständnis. Viele hören, die ersten drei Lebensjahre sind die entscheidende Phase und denken, in dieser Zeit muss viel trainiert werden. Wir sagen, die sind entscheidend für Motivation, Neugierde und Lerninteresse des Kindes. In dieser Zeit legt sich fest, mit welchen Augen das Kind in die Welt guckt, mit welchen Aktivitäten es in die Welt startet. Ob es Lust und Interesse am Lernen hat und sich weiterentwickelt. Oder ob es schon nach diesen drei Jahren bis unters Dach voll ist mit Informationen und mit Programm.
Also entscheidend ist: wie habe ich in diesen drei Jahren gelernt, mich auf die Welt einzulassen und meine Erfahrungen zu sammeln und habe ich in diesen drei ersten Jahren das Gefühl gehabt, immer wohl beschützt und sicher aufgehoben zu sein. Es gilt also immer Bindung vor Bildung. Bevor wir uns also über Trainingsprogramme Gedanken machen, muss erst sichergestellt sein, dass das Kind in seinen Grundbedürfnissen zufriedengestellt ist, glücklich ist, gut aufgehoben ist und eine sichere Basis hat, eine Vertrauensperson in seiner Näh hat. Ohne die findet kein Lernen in unserem Sinne statt.
Wir werden oft gefragt, was den perfekten Vater kennzeichnet. Wie antwortest Du darauf?
Viele Dinge gelten für Mutter und Vater, daher lässt sich das gar nicht genau abgrenzen. Das Fachwort für perfekte Bezugspersonen ist Sensitivität. Das heißt, die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und adäquat befriedigen. Das ist manchmal schwierig. Wahrnehmen heißt, mitbekommen, welches Bedürfnis das Kind hat. Das ist insbesondere bei Kindern schwierig, die sehr sehr still und zurückgezogen sind, die mir also gar nicht signalisieren, dass sie zum Beispiel ein Bedürfnis nach Nähe haben. Wenn ich also ein Signal des Kindes bekommen habe, ist der erste Schritt schon mal geschafft. Dann muss ich das Signal noch entsprechend deuten.
Wenn das Kind noch sehr klein ist, sendet es mir noch sehr unspezifische Signale. Da muss ich ein Gespür entwickeln, um zu erkennen, ob es nun Hunger oder Durst hat. Und selbst wenn ich es dann richtig gedeutet habe heißt das im dritten Schritt noch nicht, dass ich mich auch dafür entscheide, es auch zu befriedigen. Häufig stehen dem alte Erziehungsmythen im Weg. Wenn das Kind mir zum Beispiel signalisiert „Ich habe Hunger“, ich aber sage, Essen ist noch nicht dran, dann habe ich im letzten Schritt noch die Sensitivität durchbrochen. Also immer dem Bauchgefühl vertrauen, auf die Signale des Kindes achten und versuchen, adäquat zu reagieren.
Das schafft die Vertrauensbasis, die gebraucht wird. Es geht bei den Grundbedürfnissen nicht um Gummibärchen und Computerspiele, sondern um die grundlegenden Bedürfnisse, wo das Kind für sein eigenes Überleben nicht sorgen kann. Nahrung, Essen, Trinken, Schutz, Sicherheit, Zuwendung, Zuneigung. Da kann auch nicht verwöhnt werden. Da gibt es kein zuviel.
Welches Spielzeug gehört in ein Kinderzimmer?
Gutes Spielzeug muss nicht automatisch aus Holz sein. Es gibt sehr gutes Plastikspielzeug, welches auch hygienisch einwandfrei ist. Es muss ein bißchen was aushalten und es sollte etwas „verwickelt“ sein in dem Sinne, dass es längere Zeit auch das Interesse des Kindes fesselt. Es sollte idealerweise andere Kinder mit einbeziehen und natürlich giftfrei sein. Ansonsten lässt sich das nur altersspezifisch beantworten. Es muss nicht elektronisch sein. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass häufig die Erwachsenen eine Faszination für dieses Spielzeug haben, die Kinder diese Faszination aber gar nicht teilen.
Ein Kind, wenn es klein ist, ist mit riesigen Papierbögen sehr leicht zu begeistern, mit Knisterfolie, mit Spiegelflächen, mit Töpfen, mit dem Besteckkasten von Mama und Papa. Eigentlich mit allem, mit dem sich die Großen auch gerade beschäftigen. Das lockt das Interesse der Kinder hervor. Mamas Handtasche, Papas Werkzeugkasten, wenn man bei den Klischees bleiben möchte. Das sind die Sachen, die die Kinder wirklich interessieren und womit sie sich auch wirklich lange und ausdauernd beschäftigen können.
Wieviel Freiraum fördert die Entwicklung? Wo ist die Grenze?
Also, ich würde Kinder nicht absichtlich in Gefahr bringen. Man muß Kinder vor Gefahren schützen. Aber es ist auch nicht schlimm, wenn sie gefährliche Situationen erleben. Wir wissen, dass die Kinder in den ersten Lebensjahren über Schutzreflexe verfügen, über die Erwachsene nicht mehr verfügen. Die natürliche Reflexausstattung schützt das Kind, veschwindet aber irgendwann. Dann muss das Kind gelernt haben, auch ohne seine natürlichen Schutzreflexe zu reagieren. Der Greifreflex verschwindet irgendwann. Dann muss das Kind gelernt haben, bewusst zuzugreifen, um nicht abzurutschen. Dazu muss man auch mal abgerutscht sein.
Dieser übertriebene Sicherheitswahn, der bei vielen Erwachsenen herrscht, nicht nur bei Eltern sondern auch in pädagogischen Einrichtungen, der hat die Kinder eher systematisch unsicherer gemacht. Man muss auch mal fallen, mal stürzen oder mal die Nase aufhauen, denn nur so lernt man, mit gefährlichen Situationen umzugehen. Ansonsten verletzt man sich stärker, wenn man nie in solch gefährliche Situation reingeraten ist. Ich würde ein Kind niemals schubsen. Aber ich würde es auch nicht schlimm finden, wenn es in eine gefährliche Situation reingerät und dann auch mal einen Fehler macht.
Keine direkte Konfrontation mit der Gefahr, aber sinnvolle Gefahrenabwägung und wenn ich feststelle, dass ein Kind in einer Situation des häuslichen Lebens oft ermahnt werden muss wie „sei da vorsichtiger“ oder „geh da weg“, „pass da auf“, „Achtung“, dann würde ich eher empfehlen, die Situation zu ändern, also die Ecke des Tisches abzupolstern, den Besteckkasten wegzuschließen oder die spitzen Gegenstände ausser Sichtweite zu räumen. Weil Ermahnungen in den ersten Lebensjahren nur die Beziehung belasten, aber von dem Kind noch nicht verstanden werden. Situationsgestaltung ist dann wichtiger, als auf die Einsicht oder die Vernunft des Kindes zu hoffen, was ausgeschlossen ist in den ersten Jahren.
Das ist ein schönes Schlusswort, besten Dank für die spannenden Einblicke!
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Fotos © Pampers // © mamie.de