Man sieht ihn nicht, hört ihn nicht, fühlt ihn aber unaufhörlich mahlen: Der Zahn der Zeit. Wie da gelegentlich der Wunsch aufkommen kann, noch einen Zahn zulegen zu wollen, weil irgendwas nicht schnell genug geht, erschließt sich mir nicht. Oder gleich den Affenzahn zu preisen, bloß, weil der für ein rauschhaftes Erleben steht. Ich für meinen Teil bin mit dem Zahn der Zeit bestens bedient. Schneller muss nicht, und überhaupt hinterlassen Zähne nicht immer einen guten Eindruck. Solche zum Beispiel, für die sich von Berufs wegen Zahnchirurgen interessieren müssen. Und zwar deshalb, weil sie als schwerwiegendes Hindernis identifiziert wurden. Pauline und Leander durften die zweckmäßige Bekanntschaft mit einem Zahnchirurgen machen, für jeweils etwa eine halbe Stunde. Stein beziehungsweise Zahn des Anstoßes war der sogenannte Weisheitszahn. Von dem es aber jeweils nicht nur einen gab, sondern derer gleich vier. Was dem Zahnchirurgen selbstredend keine andere Wahl ließ, als schwerstes Geschütz in Gestalt blutrünstigen OP-Bestecks mit dem Ziel der totalen Entfernung aufzufahren…
Auffallend dicke Backen sind mir zuletzt aufgefallen, als ich mit der ganzen Familie einen Tierpark am Fuße des Kaisergebirges in Tirol besuchte. Dort gab es neben vielen Großgehegen ein kleines, und darin tummelten sich neben Hasen und Meerschweinchen zahlreiche Hamster. Erraten: Die haben von Natur aus ausladende Backen respektive mobile Vorratskammern. Auf diese Möglichkeit hat der Herr Zahnchirurg zwar weder Pauline noch Leander aufmerksam gemacht, hätte sich aber spätestens nach einer Woche sowieso erledigt. Die ehedem dicken Backen zogen sich wieder zurück auf Normalgröße, und auch die kurz nach dem Eingriff austretenden Blutströme hätten Dracula nur sehr kurzfristig glücklich gemacht. Zumal allerhöchstens ein Kilometer Küchenrolle und tonnenweise Kühlmaterial ausreichend waren, die unmittelbaren Folgen des Eingriffs unter Kontrolle zu bekommen. Danach aber war fast alles wieder gut, Leanders untere Gesichtshälfte umspülten mehr und mehr eckige Konturen und beiden gemeinsam war der neu entdeckte Genuss an breiigen Speisen, wie sie ihnen dereinst als Babys vorgesetzt wurden.
Klar waren sie jetzt für einige Tage optisch unter einiger Sau, und liebgewonnene Essgewohnheiten mussten vorübergehend einem mehr so kulinarischen Offenbarungseid weichen. Aber dafür waren sie insgesamt acht Weisheitszähne für immer los, für die eh niemand was übrig hatte außer einem routinierten Zahnchirurgen im lässigen Angriffsmodus. Pauline übrigens konnte ihre mit nach Hause nehmen, in einem kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel. Womit ich und der Rest der Familie bestaunen durften, was da ihr Leben und das ihres Bruders für ein paar Tage quasi entwurzelt hat. Meines jetzt weniger, zog ich mich doch mehr darauf zurück, die regelmäßige Einnahme von Schmerztabletten zu überwachen. Damit war es dann aber wirklich gut… hab` ich eigentlich schon davon erzählt, welch unglaubliches Kauderwelsch die beiden ausstießen, kaum dass fette Wattebäusche den halben Rachen ausfüllten?
Für den Zahn der Zeit sind auch Weisheitszähne nur eine Episode, wenn auch eine schmerzhafte. Dabei fällt mir ein, dass auch ich wieder mal bei einem Zahnarzt vorbeischauen sollte. Ich meine natürlich Zahnchirurgen. Schon wegen der vielversprechenden Aussichten auf einen kurzfristig erreichbaren Alltag voll mit düsteren Horror-Elementen und zum Scheitern verurteilter Kommunikation. So ein Zahnchirurg ist nämlich kein zahnloser Tiger. Wenn der zum Sprung mit seinem gemeingefährlichen OP-Besteck ansetzt, wird innerhalb von etwa einer halben Stunde blutiger Ernst draus. Ehrlich gesagt, war mir das nicht ganz klar, bevor ich Pauline und Leander in die Höhle des Löwen, also Tigers, entließ. Eigentlich hatte ich ja mehr so auf ein geselliges Beisammensein von Patient, Arzt und vielleicht noch der Zahnfee gehofft. Obwohl, an eine (halbe) Märchenstunde war nun wirklich nicht zu denken. Wer hätte das auch aushalten können? Diese furchtbaren Erzählungen über unvorhersehbare Schrecken und blutige Konfrontationen…
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