Der Anblick ist alltäglich geworden: Jugendliche, den Kopf nach unten geneigt, vollständig versunken in die leuchtenden Bildschirme ihrer Smartphones. Die kleinen Devices und digitale Angebote wie soziale Medien sind aus der Welt unserer Kinder und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Eine aktuelle forsa-Studie im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse liefert nun detaillierte Einblicke in dieses Phänomen: Mehr als drei Viertel (77 Prozent) der 12- bis 19-Jährigen nennen soziale Netzwerke wie Instagram, TikTok und WhatsApp als ihre bevorzugten digitalen Medien.
Musik-Streaming-Dienste wie Spotify folgen mit 70 Prozent auf dem zweiten Platz, während Video-Streaming-Plattformen wie Netflix mit 61 Prozent den dritten Rang belegen. Gaming schafft es mit 52 Prozent auf den vierten Platz.
Digitale Welten als Entwicklungsraum
Die sozialen Medien haben sich zu vielfältigen Netzwerkplattformen entwickelt, die weit mehr als nur Unterhaltung bieten. Sie sind zu Räumen geworden, in denen Jugendliche ihre Identität formen, sich mit Gleichaltrigen austauschen und Zugehörigkeit erleben.
Hier finden sie Möglichkeiten, sich zu informieren, Position zu beziehen und kreativ zu sein. Die Plattformen bieten Bestätigung und manchmal auch Hilfe in schwierigen Situationen. Doch wie die KKH-Psychologin Franziska Klemm warnt, birgt diese digitale Welt auch erhebliche Risiken: „Soziale Medien können Heranwachsende mit ihrem Überangebot und ihrer Flut an ungefilterten Nachrichten aber auch überfordern, frustrieren, Ängste schüren und einsam machen.“
Die gesundheitlichen Folgen der digitalen Revolution
Die permanente Online-Präsenz hinterlässt deutliche Spuren in der Entwicklung junger Menschen. Die KKH verzeichnet besorgniserregende Trends: Bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren stiegen motorische Entwicklungsstörungen innerhalb einer Dekade (2013-2023) um 37 Prozent an. Bei den 15- bis 18-Jährigen beträgt die Zunahme sogar 77 Prozent. Noch drastischer entwickelten sich Sprach- und Sprechstörungen mit einem Gesamtanstieg von 53 Prozent – bei den älteren Teenagern sogar um 104 Prozent. Diese Zahlen verdeutlichen die weitreichenden Auswirkungen intensiver Mediennutzung auf die körperliche und geistige Entwicklung.
Die Faszination des permanenten Online-Seins
Für die heutige Jugend ist das Smartphone zur Steuerzentrale ihres Alltags geworden. Es ermöglicht eine ständige Präsenz in allen Lebensbereichen – von Familie und Freunden über Schule bis hin zu Hobbys. Die Zahlen sprechen für sich: 93 Prozent der befragten Jugendlichen nutzen täglich soziale Netzwerke, davon 85 Prozent mehrmals täglich. Die Hauptmotive sind dabei vielfältig: 82 Prozent nennen Spaß als Hauptgrund, dicht gefolgt von Zeitvertreib (80 Prozent). Zwei Drittel nutzen die Plattformen für soziale Kontakte und Verabredungen.
Prof. Dr. Martin Korte von der TU Braunschweig liefert eine neurobiologische Erklärung für diese intensive Nutzung: „Schalten wir das Smartphone ein, wissen wir nie, was uns erwartet. Das gilt besonders für soziale Medien, deren Nutzung oft mit der Erwartung auf soziale Belohnung einhergeht. Dies kann zu einer starken Dopamin-Ausschüttung führen, die in manchen digitalen Kontexten genauso stark sein kann wie bei einer Drogen- oder Spielsucht.“ Besorgniserregend ist dabei, dass 21 Prozent der Jugendlichen soziale Medien nutzen, um Problemen zu entgehen, während 19 Prozent von der Angst getrieben werden, etwas zu verpassen.
Die psychologische Dimension der digitalen Interaktion
Das emotionale Wohlbefinden vieler Jugendlicher ist zunehmend mit ihrer Online-Präsenz verknüpft. Die Studie zeigt: 56 Prozent fühlen sich gut, wenn ihre Beiträge Likes oder Shares erhalten. Im Gegensatz dazu können negative Kommentare 27 Prozent der jungen Menschen emotional verletzen, und fehlende Reaktionen machen jeden Vierten traurig. Diese emotionale Abhängigkeit von digitaler Bestätigung ist besonders in der sensiblen Phase der Identitätsentwicklung problematisch.
Die Schattenseite: Cyber-Mobbing als reale Bedrohung
Besonders alarmierend ist die Verbreitung von Cyber-Mobbing. Jeder fünfte Jugendliche (21 Prozent) wurde bereits Opfer von Online-Belästigung, und 35 Prozent leben in ständiger Sorge vor digitalen Übergriffen. „Beleidigungen und Ausgrenzung von Menschen erfolgen im Netz anonym, meist über einen längeren Zeitraum, und sie erreichen mehr Menschen als offline. Dagegen aktiv anzugehen, ist schwer. Und da das Smartphone im Alltag der Jugendlichen nahezu immer präsent ist, gilt das auch für das Mobbing.“, erklärt Franziska Klemm. Die Folgen können von Verunsicherung über sozialen Rückzug bis hin zu Ängsten und Depressionen reichen.
Kognitive Entwicklung im digitalen Zeitalter
Prof. Korte differenziert zwischen positiven und negativen Auswirkungen der intensiven Mediennutzung. Einerseits hat die visuelle Intelligenz der Jugendlichen durch Kurzvideoformate zugenommen – sie können schneller auf verschiedene visuelle Reize reagieren. Andererseits leiden das Detailverständnis und die Fähigkeit, größere Zusammenhänge zu erfassen. Die ständige Kurzform-Kommunikation beeinträchtigt die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenz. Besonders bedenklich ist der Einfluss auf die Empathiefähigkeit: „Die Gehirnareale, die spiegeln, was andere Menschen denken und fühlen, entwickeln sich bei übermäßiger Smartphone-Nutzung langsamer, bleiben möglicherweise sogar schlechter ausgeprägt.„
Handlungsstrategien für Eltern
Als Väter und Mütter stehen wir vor der Herausforderung, unseren Kindern einen gesunden Umgang mit sozialen Medien zu vermitteln. Die KKH-Expertin Klemm empfiehlt einen aktiven, aber ausgewogenen Ansatz:
- Entwickelt gemeinsam mit euren Kindern klare Nutzungsregeln
- Führt offene Gespräche über Online-Erfahrungen
- Fördert einen ausgewogenen Mix aus digitalen und realen Aktivitäten
- Helft euren Kindern, soziale Medien nicht als Ersatz für echte Beziehungen zu sehen
- Setzt Grenzen, aber bleibt dabei verständnisvoll und unterstützend
Unterstützung und Ressourcen
Die KKH hat die Bedeutung der Medienkompetenz als zentrale Gesundheitskompetenz erkannt und bietet ihren Versicherten konkrete Unterstützung. Mit einem speziell entwickelten Medientagebuch und dem digitalen Informationsportal „Clemens hilft!“ stellt die Krankenkasse praktische Werkzeuge zur Verfügung, die Familien bei der Entwicklung eines gesunden Medienverhaltens unterstützen. Interessierte Eltern finden weiterführende Informationen unter kkh.de/mediennutzung und kkh.de/clemenshilft.
Die Herausforderung besteht darin, die Chancen digitaler Medien zu nutzen und gleichzeitig ihre Risiken zu minimieren. Dies gelingt am besten, wenn Eltern ihre Kinder aktiv begleiten und unterstützen, statt sie mit den Herausforderungen der digitalen Welt allein zu lassen. Denn eines ist klar: Soziale Medien werden auch in Zukunft ein wichtiger Teil des Lebens unserer Kinder sein.