Immer mehr Kinder leiden unter psychischen Krankheiten wie Angststörungen und Depressionen. Wenn die nicht frühzeitig erkannt und bearbeitet werden, führt das nicht selten für alle Beteiligten zu sehr langwierigen Behandlungen und schlimmstenfalls sogar zu suizidalem Verhalten. Eltern sind oft machtlos und unerfahren, um auf diese Krankheitsbilder rechtzeitig und angemessen zu reagieren. Daher gibt es eine Reihe von Einrichtungen und Anlaufstellen, bei denen Eltern und Kinder Hilfe bekommen können. Ein neues Präventionsprojekt soll nun insbesondere das suizidale Verhalten senken. Daher wollen wir es euch hier vorstellen.
Wer Kinder hat, der lernt im Laufe des Älterwerdens eine Vielzahl von Emotionen kennen. Beginnend mit den Terrible Twos kann manchmal bei dem Nachwuchs große Wut aufsteigen, sich durch die KiTa oder die Schule schnell Frust breitmachen oder auch Angst und Traurigkeit aufziehen. Insgesamt scheint die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen deutlich zuzunehmen. Zumindest zeigt das eine repräsentative forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse unter Eltern von 6- bis 18-jährigen Kindern und Jugendlichen.
Bei der Befragung bestätigten 40 Prozent der Mütter und Väter das Gefühl, dass ihr Kind in den vergangenen ein bis zwei Jahren vermehrt unter seelischem Stress gelitten hat. Über ein Fünftel (21 Prozent) der Eltern von Grundschüler:innen zwischen 6 und 10 Jahren hat den Eindruck, dass ihr Kind aktuell psychisch stark belastet ist. Bei Eltern 11- bis 18-Jähriger liegt der Anteil sogar bei knapp einem Drittel.
Psychische Gesundheit von Schüler:innen
Durch die jüngsten Studien wird auf erschreckende Weise deutlich, wie ernst es teils um die psychische Gesundheit von Schüler:innen steht. Dabei liegt der Fokus oft auf Mädchen in der Pubertät, wenn es um die Erkrankungen Angststörungen, Depressionen und Essstörungen wie Magersucht und Bulimie geht. „Im Alters- und Geschlechtervergleich sehen wir hier sowohl die größten Zunahmen an Arztdiagnosen als auch die meisten Betroffenen“, berichtet KKH-Psychologin Franziska Klemm. Demnach stieg in den zehn Jahren von 2012 auf 2022 der Anteil der 6- bis 18-jährigen Versicherten
- mit Angststörungen insgesamt um 53 Prozent (von 1,2 auf 1,8 Prozent), bei den 15- bis 18-jährigen Frauen sogar um 115 Prozent (von 2,4 auf 5,1 Prozent),
- mit Depressionen insgesamt um fast 88 Prozent (von 1,3 auf 2,4 Prozent), bei den 15- bis 18-jährigen Frauen um 122 Prozent (von 3,9 auf 8,7 Prozent),
- mit Essstörungen insgesamt um rund 35 Prozent (von 0,5 auf 0,7 Prozent), bei den 15- bis 18-jährigen Frauen um 62 Prozent (von 1,2 auf 2,0 Prozent).
Nicht ganz so bedrohlich sind Diagnosen wie Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden sowie Störungen des Sozialverhaltens. Die Corona-Pandemie scheint gerade auf die überproportional steigenden Erkrankungen einen Teil beigetragen zu haben: Bei Angststörungen registrierte die KKH vom Vor-Corona-Jahr 2019 auf 2022 ebenfalls bei den 15- bis 18-jährigen Frauen einen besonders starken Anstieg von 40 Prozent (von 3,6 auf 5,1 Prozent), bei Depressionen von fast 30 Prozent (von 6,8 auf 8,7 Prozent) und bei Essstörungen von rund 44 Prozent (von 1,4 auf 2,0 Prozent).
Hier sind Grundschulkinder unter zehn weniger stark betroffen. „Bei ihnen beobachten wir teils sogar rückläufige Zahlen“, sagt KKH-Expertin Klemm.
Ursachen psychischer Erkrankungen von Kindern
Allerdings sind es nicht allein die Folgen der Corona-Pandemie und deren Nachwirkungen, die Kinder und Jugendliche – und vor allem junge Frauen – so stark belasten. „Die Folgen dieser mehrjährigen Ausnahmesituation sind noch gegenwärtig“, weiß Franziska Klemm. Zurück im Schulalltag steigt für die Schüler:innen der Druck, die Versäumnisse der letzten Corona-Jahre aufzuholen und die Schuljahre mit guten Noten abzuschließen.
Und die älteren Semester haben die Herausforderung vor der Nase, durch einen guten Abschluss die Voraussetzung für eine solide berufliche Zukunft zu schaffen. Bei der zitierten Umfrage sehen 69 Prozent der Eltern, deren Kind sich psychisch stark belastet fühlt, den Leistungsdruck in der Schule oder bei der Ausbildung als Auslöser dafür an. Erschwerend kommen die hohen Ansprüche der Kinder an sich selbst als Grund für seelischen Stress hinzu. Gut 30 Prozent sehen fehlende soziale Kontakte und Einsamkeit als Ursache.
Mädchen haben andere Bedürfnisse als Jungs
„Während der Pandemie haben Mädchen häufig besonders unter dem Alleinsein gelitten“, sagt Franziska Klemm. Ein möglicher Grund dafür ist, dass enge soziale Bindungen für sie in der Pubertät eine größere Rolle spielen als für Jungen. „In den Lockdown-Phasen konnten Jungen ihre sozialen Bedürfnisse vielleicht besser ausgleichen, indem sie sich anstatt auf dem Fußballplatz bei Onlinespielen austauschten, während Mädchen den persönlichen Kontakt zur besten Freundin vermissten“, erläutert die Psychologin. Wenn diese engen emotionalen Bindungen plötzlich verloren gehen, reißt das tiefe Löcher, die sich nicht so einfach kompensieren lassen.
Alles auf die Corona-Phase und den Lockdown zu schieben, ist allerdings auch nicht korrekt. Knapp 42 Prozent der Eltern psychisch stark belasteter Kinder geben zwischenmenschliche Konflikte als Grund dafür an, knapp ein Drittel (32 Prozent) nennt Mobbing in der Schule oder in sozialen Netzwerken als Ursache. Eine Rolle spielen darüber hinaus allgemeine Zukunftsängste, bedingt beispielsweise durch den Klimawandel und gesellschaftliche Veränderungen (29 Prozent).
Wie sehen die Reaktionen der Kinder Kinder und Jugendlichen auf den seelischen Druck aus und welches sind ihre Ventile? „Belastende Ereignisse lösen zunächst einmal Emotionen aus. Diese können bei Heranwachsenden mitunter auch heftig ausfallen“, sagt Franziska Klemm. Laut der forsa-Umfrage sind die häufigsten Reaktionen auf seelischen Stress Traurigkeit und Rückzug der Kinder. Das bestätigt jeweils etwa jedes zweite Elternteil, deren Kind psychisch stark belastet ist.
Fast ein Drittel (31 Prozent) berichtet, dass der Nachwuchs schon einmal mit Angst auf psychischen Druck reagiert hat – etwa mit der Angst vor anderen oder davor, in die Schule zu gehen. 29 Prozent sagen, dass ihr Kind unter emotionalem Druck wütend wird und andere anschreit oder handgreiflich wird. 14 Prozent der Eltern stark belasteter Kinder und Jugendlicher berichten von einer Aggression des Kindes gegen sich selbst, etwa durch eine Selbstverletzung.
Präventionsprogramm senkt selbstverletzendes Verhalten
Dr. Wolfgang Matz, Vorstandsvorsitzender der KKH, betont: „Kinder und Jugendliche sind unsere Gestalter und Entscheider von morgen. Ihnen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist für unsere Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Als Krankenkasse halten wir es daher für wichtig, nachweislich wirksame Präventionsprojekte zu unterstützen und zu entwickeln, die unseren Nachwuchs widerstandsfähig gegen psychische Erkrankungen machen.“ Hier setzt eine Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg an, das die KKH bei der Entwicklung von Präventionsprogrammen begleitet.
Ein Forschungsteam um Professor Dr. Marcel Romanos, Klinikleiter und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, hat im vergangenen Jahr rund 880 Schüler:innen im Durchschnittsalter von 11 bis 14 Jahren zu ihrem psychischen Befinden befragt: Rund elf Prozent gaben an, sich selbst zu verletzen, etwa in Form von Ritzen.
„Selbstverletzendes Verhalten ist ein außerordentlich häufiges Phänomen im frühen Jugendalter. Es ist Ausdruck von starken emotionalen Anspannungszuständen und der mangelnden Fähigkeit, Gefühle adäquat zu regulieren“, erläutert Studienleiter Romanos. „Selbstverletzung ist ein Hochrisikofaktor für schwere psychische Erkrankungen wie Depressionen und suizidales Verhalten.“ Dramatisch: Laut der Würzburger Studie hatten 30 Prozent der befragten Schüler:innen schon einmal Suizidgedanken.
DUDE – Du und deine Emotionen
Entgegenwirken soll hier das neue Präventionsprogramm „DUDE – Du und deine Emotionen“, das die KKH unterstützt und welches über die Schulen ausgerollt werden soll. Es richtet sich an Schüler:innen der sechsten und siebten Klassen und hat das Ziel, die Regulation von Gefühlen zu fördern, die mentale Gesundheit langfristig zu stärken und so psychische Erkrankungen zu vermeiden.
„Der Gedanke ist, die Resilienz von Jugendlichen frühzeitig zu verbessern – noch bevor emotionale Belastungen ein kritisches Ausmaß annehmen können“, erläutert Marcel Romanos. Erste Analysen zeigen vielversprechende Ergebnisse: „Wir können bereits jetzt davon ausgehen, dass DUDE das Potenzial hat, Jugendliche vor selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität zu schützen.“
Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt:innen e.V. (BVKJ) betont: „Die Daten zeigen deutlich, wie hoch die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich ist. Das ist eine Entwicklung, die wir seit langem beobachten müssen und die sich während der Corona-Pandemie leider weiter verschärft hat. Die Bedürfnisse und Bedarfe unserer jüngsten Generation sind bei der Pandemiebekämpfung von der Politik viel zu lange ignoriert worden. Jetzt geht es darum, die sozialen und leider auch psychischen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche aufzufangen. Das wird nicht gehen, ohne dass die dafür notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden.“
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